Warum wählen so viele Leute extrem? Ist das der Anfang vom Ende der Demokratie?
Eine politische Analyse vom Zukunftsökonomen Professor Bernd Thomsen.
Jetzt auch Brandenburg, mit der größten Wahlbeteiligung in der Landesgeschichte. Die drei deutschen Landtagswahlen des Jahres 2024 sind gelaufen. Zwar schaffte es der SPD-Ministerpräsident in Brandenburg (gewollt ohne Unterstützung des Kanzlers, aber u.a. mit bisherig Grünen- und Nichtwählern), den Platz 1 zu verteidigen. Aber überall legte die nationalpopulistische AfD zu, in Brandenburg auf 29,2%, in Thüringen wurde sie gar stärkste Kraft. Und die andere populistische (Eine Frau-) Partei, das russlandfreundliche Bündnis Sarah Wagenknecht, legte einen Raketenstart hin, in Brandenburg auf 13,5%, in Thüringen gar auf 15,8%. Bereits bei der Europawahl hatte keine andere deutsche Partei mehr Zuwächse. Diese Entwicklung ins Extreme beschränkt sich jedoch nicht auf Deutschland. Auch beispielsweise Frankreich und Italien rückten nach rechts. Wählt sich die Demokratie also grade überall auf der Welt selbst ab?
Den rund 7 Millionen Wahlberechtigten in Thüringen, Sachsen und Brandenburg stehen weltweit 3 Milliarden Wähler gegenüber: In diesem Jahr finden in 75 Ländern der Welt Wahlen statt. So viel wie noch nie. Ist das allein nicht schon Beweis für den Erfolg der Demokratie? Auch in Russland und Iran ist 2024 Wahljahr, aber die Menschen dort haben keine Wahl. Es werden zurzeit weltweit nicht nur Autokratien autokratischer, sondern auch Demokratien weniger demokratisch. Die Demokratie steht unter Druck. Warum ist das so?
Lange waren die USA Vorbild. Synonym für Demokratie. Doch spätestens seit Trump und dem Sturm aufs Kapitol schwindet diese Funktion. Und „vom Tellerwäscher zum Millionär“ ist dort oft Vergangenheit. Genau diese Prosperität (Teil der Lösungsformel im Buch „Retten wir unsere Demokratie“) haben sich autokratische Herrscher abgeguckt. Allen voran Chinas Präsident Xi. 800 Millionen Menschen soll das Land aus der Armut geholt haben. Aber auch in anderen Autokratien wie Ruanda oder Katar lautet die Botschaft der brutalen Herrscher: „Mit uns geht’s dir besser!“ Und zwar nicht nur in den betreffenden Ländern, sondern auch in anderen. Früher dachte die Welt, wenn‘s irgendwo um Hilfe ging, automatisch an die USA, nach dem zweiten Weltkrieg etwa mit dem Marshallplan. Heute dagegen werden Häfen, Schienen und Straßen weltweit von China gebaut, das damit den Menschen, die dort leben, hilft. (Allerdings auch sich selbst. Es macht die Länder von China abhängig).
Doch neben den verblassten Vorbildfunktionen der USA gibt es einen noch wichtigeren Grund, warum Menschen in Erfurt, Rom und Oklahoma rechte Parteien wählen. Das menschliche Gehirn kann, das ist wissenschaftlich erwiesen, nicht mit Unsicherheit umgehen, es reagiert auf alles, was nicht mit dem Erwarteten übereinstimmt. Es schlägt Alarm: Die Bedrohung muss beseitigt werden! Da macht es keinen Unterschied, ob es um Terror oder Arbeitslosigkeit oder Wirtschaftskrisen und Klimawandel und Künstliche Intelligenz und Pandemien und Kriege oder Migrationsströme (und wieder Terror) geht. Was davon für einen Teil der Bevölkerung Wandel darstellt, macht einem anderen Angst. Egal, ob die Bedrohung tatsächlich existiert oder nur subjektiv empfunden wird.
Beispiel Deutschland: 16 Jahre hat Angela Merkel in drei von vier Legislaturperioden mit der SPD, und in der letzten mit dem heutigen Kanzler Olaf Scholz, Unerwartetes vermieden. Sie hat es dabei unterlassen, die nötige Digitalisierung und den Infrastrukturausbau und die Unabhängigkeit Deutschlands von (schön billiger) totalitärer Energie zu forcieren. 2022 musste Vieles dann sofort passieren. Stelle man sich vor, der eigene Sohn oder die eigene Tochter müsste das gesamte in der Schulzeit bis zum Erwachsensein in bis zu 13 Jahren erworbene Wissen in wenigen Monaten lernen. Auch da würde das Gehirn Alarm schlagen. Die Kuscheljahre der großen Koalition können die Fehlerflut des Kanzlers und seiner Regierung, die nur noch 3% der Wähler wollen, nicht entschuldigen. Aber sie können helfen zu erklären, warum der reißende Strom der o.g. Bedrohungen Menschen alles zu viel werden lässt. Ob sie es selbst erleben. Ob sie es in den Nachrichten hören. Oder ob sie Lügen glauben, die Putins Desinformations-Kampagnen mit Hilfe von Internet, AfD und BSW verbreiten. Menschen fliehen dann in die Arme derer, die einfache Lösungen versprechen, ob sie Trump oder Höcke heißen. Mehr noch, auch das ist wissenschaftlich bewiesen: Menschen, die sich so fühlen, die Unsicherheit so spüren, werden tatsächlich aggressiver – zu jenen, die anders sind. Migranten etwa.
Hingegen werden ihnen alle, die vermeintlich so sind wie sie selbst, sympathischer. Beispielsweise, dass Kamala Harris, die US-Präsidentschaftskandidatin im Land der Waffen, selbst Waffenbesitzerin ist.
Das Ende der Demokratie steht trotz der vielen Bedrohungen nicht vor der Tür. Weil kluge Köpfe wissen, dass Veränderungen sowohl mit der Brechstange als auch mit Verschleppung mehr kaputt machen als weiterhelfen. Und dass ein neues Bildungs-Ökosystem (Teil des Buches „Retten wir unsere Demokratie“) Medienerziehung zwingend macht, um Fakes von Fakten zu unterscheiden. (In Litauen beispielsweise wartet dagegen niemand auf die nächste Generation, hier widersteht bereits heute eine ganze Gesellschaft mit vielen Maßnahmen der Einflussnahme aus Russland.) Vor allem aber kommt das Ende der Demokratie nicht, weil kluge Köpfe das o.g. Wissen um den vom menschlichen Gehirn ausgelösten Alarm in ihrem Handeln erücksichtigen.
Die Entwicklung der Demokratie in den letzten 120 Jahren beweist zwar verschiedene Wellen (Die erste Welle bis zum ersten Weltkrieg, die zweite nach dem zweitem und die dritte in den 90ern). Immer gab es auch Gegenwellen, in denen es mit der Demokratie abwärts ging, so auch aktuell wieder. Aber nach jeder Welle blieb mehr Demokratie übrig als es vorher gab.
Der beste Schutz der Demokratie sind Mitwirkung (Partizipation) sowie Prosperität (siehe oben) und in deren Mitte Ovation, also Wertschätzung für sich und die Menschen, denen man sich zugehörig fühlt. (Wozu auch die Berücksichtigung des oben genannten Alarms gehört). Die Wichtigkeit der Wertschätzung beweist ein Zitat, das Beachtung verdient: Menschen in den drei Bundesländern, die dieses Jahr wählten, fühlen sich als „Bürger zweiter Klasse“! In Thüringen sagen das 75% der Menschen.
Über den Autor
Prof. Bernd Thomsen ist einer der weltweit führenden Zukunftsexperten. Der von 2.000 internationalen Wirtschaftsexperten zum „Global Innovation Expert No. 1“ gewählte CEO einer globalen Managementberatung hilft Regierungen und Unternehmen dabei, Chancen des Wandels zu nutzen. Er lehrt in Asien und Europa, identifiziert für Deutschland Hochbegabte und führt verschiedene gemeinnützige Stiftungen. Er lebt in Hamburg und Miami und gilt als ausgewiesener USA-Experte, etwa zur Wahl am 5. November 2024.
Thomsen ist Autor des Buches „Retten wir unsere Demokratie„.