Schrumpfende Familien, steigende Ungleichheit
Mit sinkenden Geburtenraten und steigender Lebenserwartung verändern sich Familienstrukturen und werden vertikaler, mit mehr Generationen, aber weniger Verwandten innerhalb jeder Generation. „Unsere Forschung deckt einen entscheidenden Faktor dieses globalen Trends auf, der bisher weitgehend übersehen wurde: die Geschwindigkeit dieses demografischen Wandels. Das rasante Tempo dieser Veränderungen kann Familiennetzwerke grundlegend verändern“, erklärt Jiang.
Das zentrale Ergebnis der Studie zeigt, dass die Kluft zwischen Menschen fast gleichen Alters hinsichtlich der Anzahl ihrer lebenden Verwandten umso größer ist, je schneller der demografische Wandel voranschreitet. Verläuft der Wandel langsam, verteilen sich die Veränderungen über mehrere Jahrzehnte. Jiang und ihre Forschungspartner*innen fanden heraus, dass, wenn der Wandel jedoch innerhalb einer einzigen Generation schnell vonstattengeht, erhebliche und abrupte Unterschiede entstehen.
„Unsere Analyse stützt sich auf Daten aus Ländern wie Thailand, das einen sehr raschen Wandel – insbesondere einen Rückgang der Geburtenrate – erlebt hat, und Nigeria, wo der demografische Wandel wesentlich langsamer verlief“, so Jiang. In Thailand beispielsweise hatte ein 15-Jähriger im Jahr 2000 im Durchschnitt fast 30 % weniger lebende Cousins und Cousinen als ein 25-Jähriger. In Nigeria war dieser Unterschied mit weniger als 10 % deutlich weniger ausgeprägt. Im Jahr 2020 hatte ein 65-Jähriger in Thailand im Durchschnitt 15 % weniger Töchter als ein 70-Jähriger. In Nigeria war der Trend jedoch umgekehrt: Die 65-Jährigen hatten etwa sieben Prozent mehr Töchter als ihre älteren Mitbürger.
Versorgungslücken entstehen, wenn familiäre Netzwerke schneller zerfallen
Dieser starke Kontrast verdeutlicht, wie unterschiedlich der demografische Wandel weltweit verläuft. Die Unterschiede gehen über die Anzahl der Verwandten hinaus und umfassen auch die Altersstruktur. Rasche Übergänge führen zu dramatischen Veränderungen des Durchschnittsalters und der Altersstruktur der Verwandten. „Neue Generationen haben weniger Verwandte, und diese unterscheiden sich auch in ihrer Altersstruktur von denen früherer Generationen“, so Jiang weiter. Dieser Wandel wirkt sich direkt auf die Dynamik der generationenübergreifenden Unterstützung innerhalb der Familie aus.
Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass eine sich schnell verändernde Demografie ein frühes Handeln in Bezug auf institutionelle Unterstützung bei der Versorgung von Angehörigen notwendig macht. „Informelle Netzwerke zwischen den Kohorten zerfallen so schneller. Die Geschwindigkeit des demografischen Wandels führt zu erheblichen Ungleichheiten bei den familiären Unterstützungsressourcen zwischen benachbarten Kohorten. Dies wirft Fragen der Fairness bei der Gestaltung des Sozialsystems auf. Gesellschaften, die einen raschen Wandel durchlaufen, müssen die Entwicklung alternativer Unterstützungsmechanismen beschleunigen, um zu verhindern, dass benachteiligte Gruppen durch die entstehenden Lücken in den traditionellen Familiennetzwerken fallen“, so Sha Jiang.
DNEWS24 stellt die MPIDR-Studie zur Verfügung: Changing Demographic Rates Reshape Kinship Networks.