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Buchtipp: Kornblumenblau

Die renommierte SPIEGEL-Autorin Susanne Beyer zeigt 80 Jahre nach dem Kriegsende anhand ihrer eigenen Recherche zu einem dunklen Familiengeheimnis, wie verschüttete Familiengeschichte aufgedeckt werden kann.

Susanne Beyer hat ihren Großvater nie kennengelernt. Er starb unter mysteriösen Umständen in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Wer hat ihn erschossen? Und was war eigentlich seine Aufgabe im NS-Staat?

In fast jeder Familie schlummern Geheimnisse: Haben die Eltern oder Großeltern während der NS-Zeit Schuld auf sich geladen? Was verschweigen die Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden? Susanne Beyer versucht, 80 Jahre nach dem Tod des Großvaters die Wahrheit herauszufinden. Dabei wird ihr immer klarer, welche Folgen die Vergangenheit für ihr eigenes Leben hat.

Ein bewegendes Buch über eine Spurensuche und die Auswirkungen von Familiengeheimnissen auf die Gegenwart – mit vielen hilfreichen Hinweisen für alle, die mehr über die eigenen Vorfahren und sich selbst herausfinden möchten.

Interview mit Susanne Beyer

Was wussten Sie über Ihren Großvater, den Sie nie kennengelernt haben, bevor Sie mit der Recherche begannen?

Ich wusste, dass er in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges erschossen wurde. Das allein war schon geheimnisvoll, denn er war kein Soldat oder Offizier, er war Chemiker, und Chemiker gehörten zu der Berufsgruppe, die den Krieg am ehesten überlebten, weil sie in der Kriegswirtschaft gebraucht wurden. Auch mein Großvater hat für die Kriegswirtschaft gearbeitet, das wusste ich auch, betont aber wurde in der Familie eher etwas anderes: Er habe in seiner Doktorarbeit untersucht, wie sich die Farbe Kornblumenblau synthetisch herstellen lässt. Ich fand das sympathisch und poetisch: ein Naturwissenschaftler, der sich mit dieser hübschen Farbe beschäftigte. Das war es also, was ich vor allem über ihn wusste: dass er als Farbenfachmann irgendwie in die Kriegswirtschaft geraten war. Dass sein früher Tod damit zusammenhing, habe ich mehr geahnt als wirklich gewusst.

Was hat Sie dazu bewogen, aus Ihrer Suche ein Buch zu machen?

Ich glaube, ich bin mit nicht allein mit der Frage, was die eigenen Vorfahren in der NS-Zeit gemacht haben. Ich höre oft, dass jemand im Speicher oder Keller alte Fotos und Briefe von Vorfahren entdeckt und diese Funde gerne einordnen möchte. Viele wissen aber nicht, wie sie dabei vorgehen können. In meinem Buch erzähle ich nicht nur von meiner eigenen Suche, sondern gebe währenddessen auch immer wieder Hinweise, wie sich auch andere auf die Spur ihrer Großeltern begeben können: Welche Archive hier also wichtig sind, wie man Stammbäume oder Lebensläufe deuten kann. Und im zweiten Teil meines Buches gebe ich wiederum Hinweise, wie man mit dem, was man entdeckt hat, umgehen kann – wie man damit leben kann, um es mal ganz groß auszudrücken.

Was hat Sie im Laufe Ihrer Recherche besonders schockiert?

Die Arbeit meines Großvaters war nicht so poetisch, wie das Wort „Kornblumenblau“ nahelegt. Er arbeitete für eine NS-Behörde, und als ich mich genauer mit ihr beschäftigte, fand ich Anzeichen dafür, dass sie mit verschiedenen Konzentrationslagern zusammenhing. Darunter Auschwitz. Ich kann das Gefühl kaum beschreiben, als ich auf diese Spur gestoßen bin: Scham, Entsetzen, Trauer um die Opfer. Dann wiederum fand ich Indizien, die meinen Großvater möglicherweise entlasten. Ich war erst erleichtert darüber, habe das Gefühl dann aber sofort hinterfragt, denn die Verbrechen, die von der Behörde ausgingen, gab es ja trotzdem, sie werden nicht kleiner durch solche Indizien. Ich fragte mich auch, warum mir diese Indizien so wichtig sind, was das aussagt über mich und vielleicht generell über die deutsche Erinnerungskultur.

Welche Bedeutung also hat Ihre persönliche Geschichte über das Persönliche, Individuelle hinaus?

Diese entlastenden Indizien waren mir vermutlich deswegen so wichtig, weil ich meinen Großvater lieber auf der Seite der „Guten“ sehen möchte. Mehrere Studien zeigen, dass sich nur sehr wenige heutige Deutsche klarmachen wollen, dass ihre Vorfahren vermutlich mindestens Mitläufer, in vielen Fällen aber auch Täter waren. Trotz der deutschen Erinnerungskultur gibt es also diese Tabus in den eigenen Familien. Ich halte das für gefährlich, auch politisch. Wenn wir immer denken, dass das Böse woanders liegt und nichts mit uns oder unseren Verwandten zu tun hat, dann sind wir vielleicht nicht aufmerksam genug für das, was um uns herum passiert. Aber wir haben doch Verantwortung für die Zeitläufte, in denen wir leben. Und wir sehen um uns eine Erosion der Demokratie, ein Wiedererstarken der Autoritären, wir sehen alte Formen des Antisemitismus zurückkehren und neue entstehen. Wir können das als Einzelne zwar nicht aufhalten, aber wir können versuchen, unsere eigenen Einstellungen zu korrigieren, indem wir uns unserer selbst bewusster werden. Ich denke, wenn wir uns und unsere Herkunft besser kennen, fällt es uns leichter, uns ein Urteil zu bilden über die Welt um uns herum.

Die Autorin

Susanne Beyer, geboren 1969, ist seit 1996 beim SPIEGEL tätig. Sie hat im Kultur- und Wissenschaftsressort sowie im Hauptstadtbüro gearbeitet und war vier Jahre lang stellvertretende Chefredakteurin des Nachrichtenmagazins. Heute ist sie Autorin der Chefredaktion und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt »›Mich hat Auschwitz nie verlassen‹: Überlebende des Konzentrationslagers berichten« (mit Martin Doerry, 2015) und »Die Glücklichen: Warum Frauen die Mitte des Lebens so großartig finden« (2021).

Bibliografie

  • Verlag: DVA
  • Seiten: 240
  • ISBN: 978-3-421-07042-5
  • Preis: 22,00 Euro

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