Becker privat und live
Kaum zu glauben, daß der „Bühnen-Allrounder“ auch markante Auftrittsnervosität kennt. Im April 2015 hatte er „seine süße Lilith“ zur Jugendfeier in den Friedrichstadt-Palast begleitet und vor den Jugendlichen, den Familien und Freunden eine Festrede gehalten. Nach eigenen Aussagen habe er bis 5 Uhr früh daran geschrieben und hätte im entscheidenden Moment am liebsten die Flucht ergriffen. Für mich kein Selbstzweifel, sondern ein eher menschlicher Zug in einer sehr persönlichen familiären Situation. Seine eigene Weltanschauung ist schwer zu fassen. Meist bekennt er sich zur utopischen Idee vom wunderschönen Kommunismus und stellt viele Dinge immer wieder in Frage. Wie seine Stückauswahl zeigt, beschäftigen ihn Religion und existenzielle Themen durchweg seit Jahren. Mit Jugendweihe habe er eigentlich nichts am Hut, das sei DDR-Vergangenheit. Seiner Tochter wolle er vor allem ein guter Freund sein und sie, wann immer möglich, unterstützen. „Sie soll machen, was sie möchte“, betont er immer wieder. Für ihn wäre es durchaus okay, wenn sie weder Schauspielerin, noch Medienschaffende werden will, sondern weiterhin in Mailand Mode studiert, sich der Kunst widmet.
Das letzte Wort scheint da noch nicht gesprochen, denn im Februar 2021 präsentierte sich das einträchtige Vater-Tochter-Gespann gut gelaunt und selbstbewußt beim TV-Quizduell unter dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“ und kürzlich Mitte Oktober 2024 ebenfalls im Doppelpack bei der Riverboat Talkrunde des MDR. Gestenreich und mit Becker-typischer Mimik plauderte er mit leichtem Berliner Zungenschlag ganz entspannt in die Runde. Tochter Lilith‘ Bühnenambitionen kann man u.a. auf dem Schauspieler-Portal „Filmmakers.eu“ verfolgen. Keine Spur mehr davon, daß sie sich einst einen Vater mit Bürojob wünschte. Vielleicht wechselt sie mit ihrer etwas ruhigeren Art, aber kreativem Talent mal hinter die Kamera als Regisseurin.
Ich habe ihn in Speyer in der Gedächtniskirche aus der ersten Reihe erlebt – Gänsehautfeeling pur. Seine Interpretation regt in der Tat dazu an, das Judas Bild zu überdenken. Rund 1.000 Zuschauer in dem ausverkauften Gotteshaus honorieren seine tiefgreifende, beeindrucke Darstellung am Rednerpult und an einer Art Abendmahltisch vor dem Altarraum mit tosendem Applaus und stehenden Ovationen. Alles endet mit einem gellenden endlosen „Neeiiinnn …, ich habe Dich nicht verraten“. Becker trägt bei seinen Judas-Auftritten stets Weiß, die Farbe der Unschuld. Und ganz am Ende kommt es dann doch noch – sein Strahlen. Schließlich ist Applaus Balsam für jede Künstlerseele und es braucht einen Moment, um von der tragischen Figur wieder zu Ben Becker zu werden.
Becker brilliert facettenreich in den verschiedensten Rollen, aber die Rolle des Judas Ischariot bzw. seine Verteidigungsrede ist ihm m.E. auf den Leib geschrieben. Wie gesagt: Text und Intension stammen von Amos Oz und Walter Jens. „Den Dom, den Papst, die Kirchen. Fast scheint es, daß es die ganze Überlieferung nicht gäbe, hätte es nicht Judas, „den Überlieferer“ Jesu gegeben“, so die Logik des evangelischen Christen Walter Jens. „Judas ist ohne Jesus nichts“, deklamiert Becker, und: „Ohne Judas ist Jesus nichts“. Ohne Kreuzestod „gäbe es die Überlieferung nicht, dass wir erlöst sind“. Judas hat einen göttlichen Auftrag erfüllt.