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Die umstrittene Rolle des Judas Iskariot.

Petra Fritz traf und erlebte Ben Becker. Ein Bericht über einen Großen. 

WikiPetra – Reportagen, Hintergrund-Recherchen, Kommentare von Petra Fritz in DNEWS24

Es gibt Schauspieler und es gibt BEN BECKER. Seine Meisterrolle ist ohne Frage „Ich, Judas“, also die Verteidigungsrede des Apostel Judas Is(k)chariot, der Jesus (angeblich) verriet. Das ursprünglich nur für eine einmalige Aufführung geplante 90-Minuten-Programm erfährt seit der Premiere im November 2015 einen unglaublichen Zuspruch bei Publikum und Fachwelt. Seine tiefe, sonore Stimme zieht jeden sofort in den Bann, die Zuschauer hängen geradezu an seinen Lippen und sind erfüllt von der Emotionalität seiner Interpretation.

Becker als Judas ist großes Kino bzw. große Schauspielkunst. Es wäre zu einfach, dies allein darauf zurückzuführen, daß er aus einer Schauspieler- und Künstlerfamilie stammt. Seine Eltern sind Monika Hansen und Rolf Becker. Er ist der Stiefsohn von Otto Sander, dem er – mit Verlaub – wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Auch seine Schwester Meret Becker ist eine bekannte Schauspielerin und Künstlerin. Seine Großmutter mütterlicherseits war die Komikerin Claire Schlichting, sein Großvater war Tänzer. Im Herbst 2011 erschien Ben Beckers Biographie mit dem Titel „Na und, ich tanze“; offensichtlich eine Referenz an seinen Großvater.

Geboren am 19.12.1964 in Bremen ist er nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Synchronsprecher und Rocksänger unterwegs. Alle diese Rollen füllt er grandios und auf seine ganz eigene Art und Weise aus. Seinen Durchbruch hatte er 1995 neben André Eisermann in J. Vilsmaiers Romanverfilmung „Schlafes Bruder“. Bislang spielte er in über 80 Film- und Fernsehproduktionen und wirkte in etlichen Theaterinszenierungen mit. U.a. in Döblins „Berlin Alexander Platz“ (1999) und 2001 unter der Regie von Peter Zadek die Rolle eines Kindsmörders in Neil LaButes „Bash“ an den Hamburger Kammerspielen. Allein auf einem Stuhl sitzend reflektiert er darin seine Tat. Der Spiegel nannte die Inszenierung damals „grausam gut“. 2005 mit dem Kunst-Trashfilm „Santos, Helden die keiner braucht“ das ultimative Kontrastprogramm. Freund und Kameramann Peppi Streich filmte ihn dabei, wie er in einem Wrestler-Kostüm auf Berliner Straßen und in Kneipen skurrile Aktionen vollführt. Kurz darauf wieder ein Monologstück in der Kinofassung von „Ein ganz gewöhnlicher Jude“, etc. 

Neben seinen diversen Bühnenengagements schrieb er mit „Sid & Nancy“ auch ein eigenes Theaterstück. Seine Eltern trennten sich, als er zehn Jahre alt war. Er wuchs bei seiner Mutter und seinem Stiefvater in Hamburg, Stuttgart und Berlin auf. Becker hat mit seiner Ehefrau Anne Seidl Tochter Lilith Maria Dörthe (* 2000) und lebt in Berlin. Allerdings leben beide von Anfang an bewußt in zwei Haushalten. ER, der Raucher, Nachtschwärmer und Rammstein-Freund, der auch mal auf der Überholspurt lebt, was seine Lieben nur bedingt nachvollziehen können, in der Stadt; Ehefrau Anne und Tochter rund  40 Kilometer entfernt auf dem Land. Offensichtlich (s)ein Rezept zum Glücklichsein. Hin und wieder war seine Frau mit von der Partie, kümmert sich, wie im Fall der Aufführung in Speyer, um das Setting, Licht, Ton gibt Feedback und hält ihm so den Rücken frei.

Ein Glaubensstreit wird zum Inbegriff der Geschichte

Judas, sein Name steht für Verrat und ist bis heute ein geflügeltes Wort. Seine Geschichte ist die der Schuld ohne Vergebung. Für ihn gibt es keine Gnade, er ist der Gehasste, Verfolgte und Verteufelte: Judas, der Jünger Jesu, der Gottes Sohn mit seinem Kuss verrät und ans Kreuz liefert. Ben Becker übernimmt seine Rolle.

Sinngemäß heißt es dazu in der Bibel, dass Judas Jesus an die Hohen Priester verriet, die diesen als unbequemen Mahner los werden wollten. Da sie nicht wussten wie Jesus aussah und wo sie ihn finden konnten, boten sie Judas ein Geschäft an. Sie gaben ihm 30 Silberlinge und dafür sollte er sie zu Jesus führen. Der Verrat erfolgt per Kuss im Garten Gethzemané: „Nehmt denjenigen fest, den ich küsse“. Später bereute Judas seine Tat und gab seinen Verräterlohn zurück. Über sein Ende gibt es widersprüchliche Aussagen. Einmal erhängt er sich, einmal bricht sein Leib auf.

Bei den Erläuterungen zur DVD heißt es zum Text von Amos Oz und Walter Jens:  „Judas ist für uns zum Inbegriff des Verräters geworden … Und doch: Judas hat uns noch etwas zu sagen. Jens hat dem vermeintlichen Verräter eine überraschende, wortgewaltige Verteidigungsrede gewidmet. „Der Judas Becker“ tritt auf und spricht höchstpersönlich zum Publikum. Er erklärt uns eindringlich, dass er im Einvernehmen mit Jesus gehandelt und eine ihm zugeteilte Rolle auf sich genommen hat. Ist es nicht gerade ihm zu verdanken, dass sich der göttliche Plan erfüllte? Sind Jesus, der Erlöser, und Judas, der Verräter, nicht untrennbar miteinander verbunden? Steht es uns zu, Judas zu verurteilen? …“

Oz, Jens (verst. 2013, Literaturhistoriker, Schriftsteller und Rhetorik-Professor) und Becker rollen den Fall Judas quasi neu auf. War das Urteil gerecht? „Was wurde denn zu verraten“, fragt Judas in seiner Verteidigungsrede, „ Jesus‘ Aufenthaltsort? Den kannten Tausende. Sein Großes Geheimnis, dass er Gottes Sohn sei? Das hat er selbst gesagt, vor allen Leuten!“ Das Bild von Judas, dem Verräter, ist ein Vorurteil mit fatalen Folgen, wie Antisemitismus, Judenverfolgung, Glaubenskriege. „Judas ist nichts ohne Jesus … aber Jesus ist auch nichts ohne Judas“, so die radikale Erkenntnis von Walter Jens, der in seinem Judas-Monolog die moralischen Gewissheiten jahrtausendelanger Frömmigkeit erschüttert. Ein mentaler Marathon, eine wahre Herausforderung für einen Schauspieler: „Hier steht einer auf in einem verzweifelten Kampf um nachträgliche Gerechtigkeit. ICH, JUDAS, als das Plädoyer für einen Verdammten … und der Widerruf eines Glaubensirrtums, der die Welt gespalten hat.“

Der israelische Schriftsteller Amos Oz sieht in dem Verräter von Jesu einen Überzeugungstäter. „Jeden Nagel habe ich in sein Fleisch getrieben. Ich habe ihn ermordet.“ Becker liest bzw. sagt das so, dass alle Qual bis zum Selbstmord des Judas für den Zuschauer spürbar wird. Judas ist für Becker nach eigenen Aussagen mehr als eine Rolle, es ist ein Schlacht- und Kraftfeld, aufgeladen mit Verachtung und Feindseligkeit von Jahrtausenden.“ Mal stürmt er vorwärts, hält abrupt inne. Ballt die Faust, hebt anklagend und verzweifelt die Arme oder sinkt mit gequälter Miene vor dem Kreuz erschöpft nieder. Mal wendet er sich vom Publikum ab, flieht in eine stille Ecke; mal klagt er lautstark und gestenreich an, richtet den Blick fokussiert in die Gesichter des Publikums. Er verlangt sich alles ab. Untermalt wird die Szenerie hie und da von wuchtigen Orgelklängen.

Becker wird zum Inbegriff des Judas

Der Grimme-Preis-Träger sucht mit seiner Interpretation des Judas nicht nur den Widerstand gegenüber Feindbildern und falschen Gewissheiten zu brechen. Er spielt „seinen Judas“ genau dort, wo die Fragen des Glaubens, der Erlösung und Verdammnis ihren Ort haben, nämlich in Gottes Häusern.

Fast alle bisherigen Veranstaltungen waren restlos ausverkauft: Aufgrund des überwältigenden Erfolges gibt es vielerorts Zusatztermine von dem Solo-Akt. Aber, wo viel Licht ist, ist auch mal Schatten. Obwohl er auch so herzlich lachen kann, schaut er oft entrückt in die Ferne oder gar grimmig drein und das Temperament geht mit ihm durch. So wie bei seinem Angriff auf einen Fotographen 2017, der ihm einen Strafbefehl bzw. eine Geldstrafe von 3.000 Euro einbrachte. Sein späterer Kommentar: „Es war das Dümmste, was ich je machen konnte“. 

Becker privat und live

Kaum zu glauben, daß der „Bühnen-Allrounder“ auch markante Auftrittsnervosität kennt. Im April 2015 hatte er „seine süße Lilith“ zur Jugendfeier in den Friedrichstadt-Palast begleitet und vor den Jugendlichen, den Familien und Freunden eine Festrede gehalten. Nach eigenen Aussagen habe er bis 5 Uhr früh daran geschrieben und hätte im entscheidenden Moment am liebsten die Flucht ergriffen. Für mich kein Selbstzweifel, sondern ein eher menschlicher Zug in einer sehr persönlichen familiären Situation. Seine eigene Weltanschauung ist schwer zu fassen. Meist bekennt er sich zur utopischen Idee vom wunderschönen Kommunismus und stellt viele Dinge immer wieder in Frage. Wie seine Stückauswahl zeigt, beschäftigen ihn Religion und existenzielle Themen durchweg seit Jahren. Mit Jugendweihe habe er eigentlich nichts am Hut, das sei DDR-Vergangenheit. Seiner Tochter wolle er vor allem ein guter Freund sein und sie, wann immer möglich, unterstützen. „Sie soll machen, was sie möchte“, betont er immer wieder. Für ihn wäre es durchaus okay, wenn sie weder Schauspielerin, noch Medienschaffende werden will, sondern weiterhin in Mailand Mode studiert, sich der Kunst widmet.

Das letzte Wort scheint da noch nicht gesprochen, denn im Februar 2021 präsentierte sich das einträchtige Vater-Tochter-Gespann gut gelaunt und selbstbewußt beim TV-Quizduell unter dem Motto  „Gemeinsam sind wir stark“ und kürzlich Mitte Oktober 2024 ebenfalls im Doppelpack bei der Riverboat Talkrunde des MDR. Gestenreich und mit Becker-typischer Mimik plauderte er mit leichtem Berliner Zungenschlag ganz entspannt in die Runde. Tochter Lilith‘  Bühnenambitionen kann man u.a. auf dem Schauspieler-Portal „Filmmakers.eu“ verfolgen. Keine Spur mehr davon, daß sie sich einst einen Vater mit Bürojob wünschte. Vielleicht wechselt sie mit ihrer etwas ruhigeren Art, aber kreativem Talent mal hinter die Kamera als Regisseurin.

Ich habe ihn in Speyer in der Gedächtniskirche aus der ersten Reihe erlebt – Gänsehautfeeling pur. Seine Interpretation regt in der Tat dazu an, das Judas Bild zu überdenken. Rund 1.000 Zuschauer in dem ausverkauften Gotteshaus honorieren seine tiefgreifende, beeindrucke Darstellung am Rednerpult und an einer Art Abendmahltisch vor dem Altarraum mit tosendem Applaus und stehenden Ovationen. Alles endet mit einem gellenden endlosen „Neeiiinnn …, ich habe Dich nicht verraten“. Becker trägt bei seinen Judas-Auftritten stets Weiß, die Farbe der Unschuld. Und ganz am Ende kommt es dann doch noch – sein Strahlen. Schließlich ist Applaus Balsam für jede Künstlerseele und es braucht einen Moment, um von der tragischen Figur wieder zu Ben Becker zu werden.

Becker brilliert facettenreich in den verschiedensten Rollen, aber die Rolle des Judas Ischariot bzw. seine Verteidigungsrede ist ihm m.E. auf den Leib geschrieben. Wie gesagt: Text und Intension stammen von Amos Oz und Walter Jens. „Den Dom, den Papst, die Kirchen. Fast scheint es, daß es die ganze Überlieferung nicht gäbe, hätte es nicht Judas, „den Überlieferer“ Jesu gegeben“, so die Logik des evangelischen Christen Walter Jens. „Judas ist ohne Jesus nichts“, deklamiert Becker, und: „Ohne Judas ist Jesus nichts“. Ohne Kreuzestod „gäbe es die Überlieferung nicht, dass wir erlöst sind“. Judas hat einen göttlichen Auftrag erfüllt.

Veranstaltungstipps

Noch besser als sich Videoausschnitte anzusehen, ist es sich bei Gelegenheit eine Karte für das Live-Erlebnis zu sichern. Am 26.11. ist er wieder zu Gast in der Speyerer Gedächtniskirche; am 27.11.24 in der Wiesbadener Ringkirche. Beginn jeweils 20.00 Uhr; die Ticketpreise liegen um die 50.- Euro. Letztlich ist jeder Abend mit ihm ein Erlebnis, egal, ob er als Punksänger auftritt oder Texte von Kafka oder Josef Roth liest. Ich erinnere mich besonders gerne an seinen Auftritt als Robert Biberti in der Filmbiographie „Comedian Harmonists“, wofür er die Goldene Kamera erhielt. Am 01.11.24 feierte sein neues Stück „Todesduell“ im Berliner Dom  Premiere. Auch hier arbeitet er eine eher dunkle Seite der Geschichte auf.

Er ist wahrlich kein Judas, kein Leugner seiner selbst. Anders sein als andere, ganz offen ungezähmt – einfach Ben Becker .

Ben Becker bei YouTube

Gibt man das Stichwort „Ich, Judas“ ein, findet man im Internet viele eindrückliche Youtube-Videos, um sich ein Bild zu machen. Auch auf seiner Website kann man in das und weitere Stücke hineinhören. Während der Vorstellung sind Mitschnitte untersagt.

Bild: PFritz, BenBecker.de © DNEWS24

Die Autorin

Petra Fritz

Die Autorin ist von Beruf Dipl-Kfm (Uni Mannheim), Jahrgang 1960, verheiratet, wohnhaft in Speyer und Locarno. Sie war 4 Jahre Personalleiterin bei den US-Streitkräften (AAFES) in Stuttgart und Heidelberg und in Folge 12 Jahre im Pharma-Management von BASF (Auslandsvertrieb) tätig, davon 18 Monate bei der Tochtergesellschaft Quimica Knoll in Mexico.

Von 2002 bis 2022 war Petra Fritz selbständige rechtliche Berufsbetreuerin (Vormund) und Verfahrenspflegerin für verschiedene Amtsgerichte in der Vorderpfalz. Seitdem widmet sie sich verstärkt ihrer Coaching- und Autorentätigkeit.

Privat war Petra Fritz Leistungssportlerin im Eis- und Rollkunstlauf (u.a. Teilnehmerin bei der Profi-WM 1978 und Top 10 1979), später 14 Jahre lang Vize-Präsidentin des Rheinland-pfälzischen Eis- und Rollsportverbandes sowie Repräsentantin „Frau im Sport“. Heute ist sie in der Freizeit gerne auf dem Wasser und auf Ski unterwegs. Ansonsten agiert sie seit 2012 auch als semi-professional Bestager-Model, Darstellerin, Moderatorin und Bloggerin für „Topagemodel.de“.

Petra Fritz hat das Buch „Mittendrin statt nur dabei“ veröffentlicht.

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