Schon seit ihrem Zusammenschluss in den 1920er Jahren prangerten Surrealisten die europäische Kolonialpolitik an, später organisierten sie sich gegen Faschisten, kämpften im Spanischen Bürgerkrieg, riefen Wehrmachtssoldaten zur Sabotage auf, wurden interniert und verfolgt, flohen aus Europa, fielen im Krieg. Sie schrieben Poesie, feilten an der Dekonstruktion einer vermeintlich rationalen Sprache in einer vermeintlich rationalen Welt, arbeiteten an Gemälden und kollektiven Zeichnungen, fotografierten und collagierten, realisierten Ausstellungen. Der „armseligen“ Vorstellungswelt der Tagespolitik verwehrten sie Einlass in ihre Kunst.
Die Regierung und Besatzung durch faschistische Parteien in mehreren Ländern Europas wie auch die Welt- und Kolonialkriege prägten den Surrealismus und zwangen die Leben seiner Protagonisten in unvorhersehbare Bahnen. Zugleich ergaben sich so erstaunliche Begegnungen und internationale Solidarisierungen, deren Verbindungslinien von Prag nach Coyoacán in Mexiko-Stadt, von Kairo ins republikanische Spanien, von Marseille nach Fortde-France auf Martinique, von Puerto Rico und Paris nach Chicago und zurück reichten. Surrealistisches Denken und Handeln fand damals und findet heute an mehreren Orten gleichzeitig statt. Statt als didaktische, lineare Erzählung wird die Ausstellung daher in verschiedene Episoden strukturiert, angeordnet ähnlich einer Landkarte. Ziel ist es, den Surrealismus als die streitbare und international vernetzte Bewegung sichtbar zu machen, als die ihn seine Vertreter*innen verstanden haben.
Innerhalb ihrer Kunst bestanden die Surrealisten auf einer absoluten „Freiheit“, die den Rest der Gesellschaft anstecken sollte. Unter Freiheit, einem belasteten Begriff, der unter verkehrten Vorzeichen auch damals schon von den Faschisten bemüht wurde, verstand der Surrealismus ein Zusammenleben, das nicht von Lohnarbeit getaktet war und in dem es größere gemeinsame Ziele als Nation und Profit gab. Sie kritisierten die Verkümmerung der Vorstellungskraft in einer Gesellschaft, für die Kunst und Poesie zu exzentrischen Tätigkeiten geworden waren. „Wenn jemand uns sagt, unsere Gegenwart habe ganz andere Sorgen im Kopf, als Gedichte zu schreiben, antworten wir: ‚Wir auch!‘“, schrieb ein Mitglied von La Main à plume, einer Gruppe, die im besetzten Paris in der Résistance kämpfte und Gedichtbände veröffentlichte.
Nicht zuletzt aufgrund dieser wesentlichen, aber offenen Beziehung zwischen Kunst und Politik beriefen sich spätere Bewegungen immer wieder auf den Surrealismus: Als Methode, die sich oft ganz selbstverständlich mit emanzipatorischen Anliegen verbindet, wurde er zum Beispiel während der 1968er-Proteste und von Vertreter*innen der Black Liberation aufgegriffen. Die Ausstellung am Lenbachhaus sieht sich als Bündelung von Versuchen, einen immer noch eng definierten und politisch verharmlosten surrealistischen Kanon zu revidieren und die Frage neu zu beantworten: Was ist Surrealismus?